Leben entlang der Landebahn – Das Tuvalu Atoll
Die eigentliche eigene Landmasse betrachtet, ist Tuvalu der zweitkleinste Staat der Welt. Manche seiner Eilande sind so schmal, dass man förmlich von der einen zur anderen Seite spucken kann. Das Herz des Inselstaates ist das Funafuti Atoll, das östlich von der Hauptinsel Fongafale umschlossen wird. Dort kann gelandet werden, auf dem höchsten Punkt des Landes, auf 5 Meter über dem Meeresspiegel. Entlang jener Landebahn spielt sich das Leben ab und bescherte mir den bis dato wichtigsten Moment authentisch gelebter polynesischer Kultur, nebst Abendessen mit dem Premierminister.
Monoton surrt die Turboprop Maschine der Pacific Sun vor sich hin. Der Blick aus dem Fenster ist von stundenlangem Vorbeiziehen der Wolken und des blauen Ozeans geprägt. Doch plötzlich geht alles sehr schnell: Anschnallzeichen, Sinkflug und zack setzen wir auf einem von Palmen gesäumten Streifen Sand mitten im Ozean auf. Wir sind da, in Tuvalu. Während der Flieger bremst, steht die Feuerwehr Spalier, aus reiner Vorsorge wie sich später herausstellt, denn die Landebahn ist Teil des Insellebens und wird gern von allen in Beschlag genommen.
Kaum habe ich den Flieger verlassen, werde ich vom wohl kleinsten internationalen Flughafen der Welt in Empfang genommen. Abflug und Ankunft, Ein- und Ausreise, Tränen des Wiedersehens sowie der Abreise – alles spielt sich unter diesem kleinen blauen Dach, in einer kleinen blauen Baracke ab. Die Maschine tankt nicht auf sondern sammelt nur neue Passagiere ein und hebt unter dem Gejohle der Kinder, die „neben“ der startenden Maschine her laufen, wieder gen Fidschi-Inseln ab.
In Tuvalu ist alles sehr klein. Manche der Inseln sind so schmal, dass man förmlich über sie hinweg spucken kann. Es gibt eine lokale Radiostation, vom Fernsehen aber sind sie seit kurzem abgeschnitten, da der Satellit neu ausgerichtet wurde. Ich übernachte in einer Unterkunft direkt neben der Landebahn. Was nach Fluglärm klingt, ist eigentlich recht entspannt, denn hier hebt nur alle paar Tage mal ein einzelner Flieger ab. Tuvalu an sich hat keine eigene Airline. Während die Sonne sich abends feuerrot verabschiedet, versammeln sich die Einheimischen entlang der Landebahn und spielen Volleyball, Federball oder aber eine lokale Mischung aus Rugby und Volleyball, bei der ein sehr schwerer Ball nur drei Mal berührt werden darf. Andere wiederum sitzen in den Häusern entlang der Landebahn und spielen Schach, Karten, Ratespiele oder gucken einfach nur zu.
Ich streife über die Hauptinsel Fongafale und wieder ist es der typische südseetypische Gesang der mich anlockt. In einer Halle direkt am Strand werde ich Zeuge eines großen Familientreffens; und WAS für ein Treffen das war… Es entpuppte sich als der insgesamt authentischste Moment gelebter polynesischer Kultur meiner gesamten Südseeaufenthalte. Die bunt gekleideten Leute tanzten, lachten, trommelten, sangen und stachelten sich gegenseitig an um noch mehr aus sich herauszugehen. Egal ob jung oder alt, egal männlich oder weiblich, hier war ganz unprätentiös mitmachen angesagt. Auch wenn ich kein aktiver Teil ihres Lebens bin und ihre Sprache nicht verstehe, so signalisieren mir ihre Augen und ihr Lächeln ganz klar, dass ich bleiben darf, dass ich willkommen bin. Mit ihren Tänzen erzählen sie sich gegenseitig Geschichten, Geschichten vom Fischfang, von Naturgewalten, von der Ankunft des weißen Mannes.
Tuvalus Inselleben geht generell sehr gemächlich und nach europäischen Maßstäben fast schon gelähmt zu. Als richtig harter Arbeitsalltag gilt es hier um 9 Uhr aufzustehen und von 10 bis 12 Uhr arbeiten zu müssen (montags bis donnerstags, wohlgemerkt), danach ist Erholung in einer der vielen Hängematten angesagt. Die Schilderungen meines Arbeitsalltags müssen ihnen vorkommen wie Geschichten vom Mond. Fongafale ist oftmals leider nicht sonderlich pittoresk, weshalb sich mein Blick schnell gen äußeren Inseln richtet. Dort hinzugelangen, hilft mir Seemann Eddy, der dank seiner Dienste für Hamburg Süd sogar gebrochen Deutsch spricht und das Funafuti-Atoll wie seine Westentasche kennt, sprich auch die Leute, die über ein Boot verfügen. Eddy organisiert einen Holzkahn samt Käpt’n, einem schelmisch drein guckenden, aber grundsätzlich freundlichen Mann, dessen kompliziert auszusprechender Vorname ihn mich die ganze Zeit über nur „Käpt’n“ nennen lässt.
Mit stählerner Faust hält er den stoisch knatternden Außenborder und quarzt dabei über den Benzinkanistern sitzend eine nach der anderen, während er mit seinem gesunden Auge auf die Rücken der zu transportierenden Bleichgesichter schielt. Der Wellengang in der Lagune ist beachtlich und lässt den leicht Wasser ziehenden Kahn ordentlich stampfen, auf das die Holzbänke unsere Hinterbacken ordentlich durchmassieren. Dieser „Genuss“ hat nach fast zwei Stunden ein Ende, als wir die äußeren kleinen Inseln des Funafuti-Atolls erreichen. Die Stimmung erreicht beim Anblick dieser idyllisch aussehenden Eilande ihren Siedepunkt. Einige von ihnen sind buchstäblich lediglich ein Haufen Sand mitten im Pazifik mit wenig mehr Platz als einer Stehzelle. Bis auf die Myriaden kleiner Ameisen die alles besetzen was seinen Fuß an Land setzt, sind diese in den Pazifik geklecksten Inseln ein kleines Stück des Paradieses.
Die Hauptrolle auf diesen Inseln spielt DER Gewinner der Evolution schlechthin, die Kokospalme. Ältere Palmen bieten unter ihren ausladenden Wedeln Schatten, während sich neue, kleine Palmen, gen Sonne durch den weißen Korallensand nach oben bohren. Andere Palmen wiederum winden sich herrlich aus dem Dickicht heraus gen Tageslicht während zu ihren Füßen die Überreste alter Palmen und Treibgut von der Brandung umspült werden. Eine himmlische Szenerie; umgeben von unwirklich intensiv glühendem Wasser, mein Fotografenherz schlägt höher. Die uns umgebenden Haufenwolken sind imposant. Der Wind frischt allmählich auf und lädt eindrucksvolle Fregattvögel, die Luftpiraten der Meere, zum segeln ein. Ich schnorchel wie ein Wilder durch die Gegend und während die Uhr voran schreitet, formt sich hinter uns ein Unwetter. Nun habe ich ja schon den ein oder anderen Blitz und Donner mitgemacht, aber diese schwarze Wolkenwand verheißt, auch wenn es dem Auge herrliche Kontraste bietet, definitiv nichts Gutes.
Und dann bricht es über uns herein. Heilige Scheiße, was da vom Himmel kommt ist nicht normal… Und dann kommen meine Mitreisenden auch noch auf die glorreiche Idee bei dem Regen und Wellengang in einem leicht undichten Kahn die nächste Insel anzusteuern. Hurra, Leinen los! Verdammte sinnfreie Massendynamik…! Innerlich sehe ich mich schon die Schadenanzeige für meine komplette Fotoausrüstung ausfüllen und zurückschwimmen, bleibe aber dennoch polynesisch gelassen, denn hier lässt sich nichts mehr tun.
Der Käpt’n legt los, der Motor stottert, wir fahren, es eimert, der Wellengang besucht uns im Boot. Wir erreichen die Nachbarinsel und zur aller Überraschung ist die Wetterlage dort auch nicht sonderlich besser… Ich fasse mir an den Kopf… Meine Fotoausrüstung hat glücklicherweise alles unbeschadet überstanden, dank sehr guter Verpackungen, trotzdem ist trocknen angesagt als wir wieder das „Festland“ erreichen. Und Hunger habe ich; Riesenknast, um genau zu sein. Apropos Knast. Tuvalu hat einen, und die zwei dort einsitzenden Straftäter können abends wieder zu ihren Familien nach Hause :-) Doch zurück zum Hunger, den ich im einzigen richtigen Hotel Tuvalus am Buffet stille und dabei auf einige ältere Herren treffe, unter ihnen sogar Enele Sosene Sopoaga, den Premierminister des Landes und Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel.
Endlich habe ich mal ein Gesicht von den Leuten, die seitens der USA ständig brüskiert werden, wenn die Nation der McDonalds-Fresser mal wieder arrogant über den Rest der Welt richtet und sämtliche nach logischen Gesichtspunkten erforderlichen Klimabeschlüsse blockiert. Enele ist so etwas wie der Nelson Mandela der Südsee. Er vertritt die kleinen Staaten vor der UNO und hat schon häufiger vor der Generalversammlung gesprochen. Die Ausstrahlung und Passion dieses Mannes fühlen, seiner Sicht der Dinge lauschen zu dürfen, ist schlechthin die Antriebskraft meiner Reiselust.
Und dann beginnt erneut der Regen. Als ob jemand eimerweise die Dachrinne füllt, schießt das Wasser durch den Abfluss. In der Nacht kann das Dach meiner Herberge das Wasser nicht mehr halten. Es fängt an zu tropfen, erst an einer Stelle, dann an mehreren, dann fängt es an zu rinnen. Ich rieche den wettermäßigen Ärger der da kommt und flirte mit den Damen des Flughafens auf das ich eine Maschine früher nehmen kann. Yes, es funktioniert! Das liebe ich so am Südpazifik. Jedermann ist freundlich und kooperativ und so entkomme ich dem, was sich später als Zyklon „Ian“ herausstellt und am 11. Januar 2014 Tonga mit Windspitzen von bis zu 285km/h traf. Ich habe nur das Vorgeplänkel erlebt, die Entstehung, aber Ihr habt keine Ahnung wie mies das bereits war. Ich habe Hochachtung vor den im Südpazifik lebenden Menschen, die dieser realen Gefahr als Teil ihres Lebens auf Augenhöhe begegnen.