Hinter den Kulissen des Goldenen Tempels in Amritsar
Amritsar kann man zu Recht als das Herz des Punjabs bezeichnen. Der Ort nah der pakistanischen Grenze ist Handelszentrum, Universitätsstadt und beherbergt mit dem Goldenen Tempel eines der höchsten Heiligtümer der Sikhs. Der Tempelkomplex hat eine wunderbar aufgeschlossene, gastfreundliche sowie spirituelle Atmosphäre und gewährt dem aufmerksamen und interessierten Beobachter überwältigende Einblicke in den Alltag der Pilger und des Tempels.
Es ist früh am Morgen und der kalte Marmor bringt die nackten Füße zum frösteln. Trotz der Temperatur und trotz der Tatsache den vierten Tag am Stück im und am Goldenen Tempel verbracht zu haben, ist das Betreten des Tempelgeländes nach wie vor etwas sehr Erhabenes. Der gesamte Tempelkomplex wird von den im Heiligtum vorgetragenen, meditativ-hypnotischen Mantren in den Arm genommen, während im glasklaren Wasser des den Tempel umgebenden Nektarteichs ab und an Karpfen und große Goldfische vorbei schwimmen. Jeder Besucher gibt sich der Magie dieses Ortes hin, kein Handy klingelt, ja noch nicht einmal das ständige nervige Hupen des Stadtverkehrs dringt zu diesem Refugium der Stille durch.
Die Sikhs und vor allem der Goldene Tempel verstehen sich als Gemeinschaft die einer bestimmten Lebensweise Verehrung zollen und ihr dienen. Natürlich gibt es ein Kernteam, aber jeder der im Tempel arbeitenden Menschen tut dies freiwillig und leistet seinen Beitrag zur Gemeinschaft. Das faszinierendste Exempel dieser Philosophie stellt dabei die Küche dar, in der die kostenfreie Verpflegung für tausende Pilger tagtäglich zubereitet wird. Die Lager sind prall gefüllt und müssen dies auch sein, denn pro Tag benötigt z.B. die Küche bis zu 150 große Propangaskartuschen. Auch der Vorrat an Weizen, Linsen, Palmöl sowie natürlich Zwiebeln, Knoblauch, Chilis und natürlich Ghee (Butterschmalz) ist immens.
Die Küche und der Speiseraum schaffen es in 15-20 Minuten über 3000 Pilger versorgen zu können. Da es Sikhs nicht erlaubt ist Fleisch zu essen, sind die Mahlzeiten vegetarisch, bestehen meist aus einer eingedickten Linsensuppe, einem Gemüsecurry, dazu Chapati-Brot und im Anschluss karamellisierten Weizen mit Mandeln oder aber Reispudding als Nachtisch. Nachschlag gibt es so oft man möchte von den durch die Menschenreihen streifenden Männern mit den Blecheimern. Die Teller und Bestecke werden anschließend in jeweils sechs einzelnen Waschgängen gesäubert. Der Goldene Tempel ist eine Wohltat im sonst außerordentlich dreckigen Indien. Selbst die Toiletten sind sehr gepflegt, sehen nicht aus, als ob die halbe Nation drauf gesessen hat.
Die Maschine zur Produktion der Chapatifladen spuckt bis zu 8000 fertig gebackene Teigscheiben pro Stunde aus. Ähnlich sieht es im Küchentrakt aus, in dem Männer mit riesigen Bärten in riesigen Bottichen riesige Mengen an Linsensuppe, Curry und Reispudding zubereiten. Es gibt zwei Küchentrakte, einen mit Gasfeuerung und einen anderen, wo noch nach alter Art Holz zum Einsatz kommt. Speziell dort riecht es wunderbar, da das Feuer teilweise auch mit Sandelholz gefüttert wird.
Dieses von der Gemeinschaft auf freiwilliger Basis erschaffene Mahl sättigt wunderbar und ist ein sehr guter Ausgangspunkt sich der Stimmung rund um das Becken stundenlang hingeben zu können. Es gibt wenige Orte auf dieser Erde die derart spirituell und zeitgleich absolut weltoffen sind.
Im Gegensatz zu Mekka wo nur Muslime willkommen sind, werden von den Sikhs im Goldenen Tempel zu Amritsar keine künstlichen Barrieren erschaffen. Auch wenn jemand mal mürrisch gucken mag, so nickt man kurz, faltet dabei die Hände zusammen, wünscht vielleicht noch einen Guten Tag und dann ist das Eis auch schon vollständig gebrochen; man bekommt ins Gespräch und lernt Leute vom Kaschmir bis nach Kanada kennen.
Sikhs betrachten ihre Gurus übrigens eher als Reformer denn als Gottheiten. Sie verehren sie für ihre innovative Position zu einer Zeit als Indien religiös zwar relativ offen, allerdings durch die Moguln und auch die Muslime stark patriarchisch geprägt und vor allem durch Kasten segregiert war. Kasten lehnen die Sikhs grundsätzlich ab und auch andere, eine Vormachtstellung signalisierende Haltung wie z.B. seitens der Muslime, die das Tragen eines Turbans und eines Barts für Nichtmuslime grundsätzlich verbietet.
Vor allem aber haben Hindus so ihre Schranken, da Angehörige vieler Kasten nicht mal ansatzweise am gesellschaftlichen und religiösen Leben teilhaben dürfen. Sikhs kennen derartige Zwänge nicht. Selbst mir als Ausländer, als blonder Blauäugiger mit christlichem Hintergrund der obendrein mit einer Kamera unterwegs ist, wird das Tragen des Heiligen Buchs im Rahmen der nächtlichen Zeremonie mit ausgestreckter Hand und einem „you are very welcome“ angeboten. In welcher Religion kommt man derart hautnah mit den wichtigsten Heiligtümern in Kontakt? Mekka und Medina sind für Nicht-Muslime Sperrzone und selbst als Christ kann man dem Schrein Petri nicht wirklich Aug in Aug gegenüberstehen.
Der Gebäudeteil im Nordosten beherbergt das Museum der Sikhs. Auf etlichen schaurigen Gemälden wird der Leidensweg der Gurus detailliert dargestellt. Im hinteren Teil der Ausstellung sind gar die Fotos der toten Männer ausgestellt, die 1984 während der Operation Blue Star von der indischen Armee getötet wurden. In 2-3 Jahren wird dieses Museum in neue Räume umziehen. Dafür wird die südöstliche Tempelanlage aktuell restauriert. Das Gebäude ist einfach zu erkennen, da nicht weiß sondern im Stile des Red Forts zu Delhi. Die Säulen entstammen übrigens im Original dieser Festung.
Der Moment des Betretens des eigentlichen Goldenen Tempels ist selbst für Nicht-Sikhs etwas sehr Bewegendes. Im Inneren sitzen um das 1430 Seiten fassende Buch „Guru Granth Sahib“ Männer und zitieren gesangsartig Mantren während das eigene Herz anfängt lauter zu schlagen. Dort angelangt, wirft man seine Spende an die Gemeinschaft in den Ring und schreitet dann gen Heiligem See, aus dem ein Schluck Wasser getrunken wird. Bevor man allerdings gen Ausgang wandelt, sollte man auch dem Zwischengeschoss und Dach des Tempels einen Besuch abgestattet haben.
Wenn auch nicht so schlimm wie anderswo, so beginnt sobald die Pilger den Tempelkomplex verlassen haben, leider wieder das Hauen und Stechen des typisch indisch-chaotischen Alltags, in dem jeder irgendwie ein bisschen planlos durch die Gegend zu laufen, zu radeln oder zu fahren scheint. Dennoch würde ein bisschen mehr ‚Goldener Tempel‘ in unser aller Herzen nicht nur Indien gut tun.