Kiew – Kastanien, Kloster und Kriegerstatuen
Berlin und Kiew sind sich sehr ähnlich. Sozial wie architektonisch, sind die Spuren des Wegfalls des Ostblocks in beiden gut 3 Millionen Menschen fassenden Städten allgegenwärtig; noch. Kiews herausstechendster Blickfang ist eines der höchsten Monumente ihrer Art: die imposante Mutter-Heimat-Statue. Wo sie steht, am Westufer des Dnjepr, trifft neuere Geschichte auf die wiedererstarkte Orthodoxie im nicht weit entfernten, riesigen Lawra-Höhlenkloster-Komplex, wo speziell zum Osterfest eine mystisch-melancholische Stimmung herrscht.
Zuckerwatte und U-Bahn-Tunnel
In der Berliner Kastanienallee sind die großen Bäume mit ihren handtellergroßen Blättern, die im Frühling so wunderschön blühen, spärlicher vertreten als der Straßenname es vermuten lässt. Kiew hingegen hat Kastanien zuhauf. Dem identitätsstiftenden Baum wird sogar durch verschiedene Wappen gehuldigt. Das Emblem der Metro zum Beispiel ist ein großes Kastanienblatt. Die drei Linien der Untergrundbahn Kiews und mein europäisches U-Bahn-Fotoprojekt sind der Grund meiner Reise. Sie mobilisieren die Stadt im 90-Sekundentakt und können Superlative wie z.B. die Arsenalna-Station vorweisen, die mit 105.5 Metern unter der Erdoberfläche die wohl tiefst gelegene der Welt ist.
Das heutige Russland, schenkte der ukrainischen Hauptstadt die dritte Untergrundbahn der damaligen Sowjetunion. Natürlich wartet die Kiewer Metro im Stile der klassisch russisch-sowjetischen Untergrundbahnen auf und ihre Lage tief in der Erde ist der Funktion als Schutzraum geschuldet. Wegen jener Funktion werde ich beim Fotografieren vom Kiewer Personal angegangen, wohingegen in der Moskowiter Metro, beim „bösen“ Russen, ob der gleichen strategischen Funktion Entspanntheit, Toleranz und Ruhe herrschte. Doch die Kiewer Metro verändert sich, da aktuelle Umbauprozesse das kommunistische Erbe entfernen, z.B. im Bahnhof Teatralna.
In der unmittelbaren Nähe der ukrainischen Hauptstadt, vielleicht eine Autostunde entfernt, liegt Tschernobyl, wo ich mir persönlich ein Bild vom Unfall des Kernreaktors und der Geisterstadt Prypjat machen konnte. Zurück in Kiew kann ich ohne atomare Bedrohung im Nacken aufatmen und die Stadt genießen, deren Straßenzüge jetzt im Frühling von blühenden Bäumen erfüllt sind. Die Luft ist mit flauschigen Pappelpollen gespickt, die wie große Schneeflocken umher fliegen während die bildhübschen ukrainischen Frauen, auf Stöckelschuhen stolzierend, mit riesigen Zeptern aus Zuckerwatte wie Königinnen entlang der Promenade am breiten Fluss Dnjepr flanieren.
Hoch über dem breiten Fluss, auf dem westlichen Uferhügel thront die imposante, Schwert und Schild erhebende Mutter-Heimat-Statue. Diese, die New Yorker Freiheitsstatue locker überragende Kolossalstatue, lässt einem buchstäblich die Kinnlade runterklappen und ist genau wie der Berliner Fernsehturm von vielerorts zu sehen. Zu ihren Füßen befindet sich ein Museumskomplex, der dem größten geschichtlichen Ereignis der sowjetisch-russischen Historie gewidmet ist, dem Großen Vaterländischen Krieg. Neben diversen originalen Kriegsgeräten sind etliche, typisch kommunistisch postmoderne Wandbilder und Statuen zu sehen.
Gleich nebenan lädt der Lawra-Komplex mit seinem Höhlenkloster zum Besuch und meine Anwesenheit fällt zeitlich zufälligerweise mit dem orthodoxen Osterfest zusammen, was mich diesen weitläufigen Ort in einer sehr mystisch-religiösen, aber irgendwie auch leicht melancholischen Stimmung erleben lässt. Die wiederaufgebaute Uspenski-Kathedrale (auch Mariä-Entschlafens-Kathedrale) erstrahlt heute wieder im typischen Stil des so genannten Kosaken-Barocks. Bevor sie 1941 von den deutschen Besatzern in Schutt und Asche gelegt wurde, war sie lange Zeit der wichtigste Sakralbau Altrusslands. Im Jahre 2000 erlebte sie ihre bauliche Wiedergeburt und zieht seither wieder Pilger an den seit über 1000 Jahren vom Menschen genutzten Ort der Orthodoxie. Das Wiedererstarken der Orthodoxie ist aber auch prekären wirtschaftlichen Verhältnissen geschuldet.
Die Orthodoxen mögen es nicht allzu sehr fotografiert zu werden. Seid vorsichtig damit. Auch in den Gotteshäusern sollte man sich immer zuvor die Erlaubnis des Popen einholen bevor man loslegt. Respekt vor Religion und anderen Menschen sollte man immer haben, dennoch steht jene Ablehnung nebst peniblen Kontrollierens von Fotografierenden für mich im krassen Kontrast zum urreligiösen Wert des Respekts und zu Damaskus, wo ich als de facto muslimisch Ungläubiger ohne jedwede Vorbehalte von allen Glaubensgemeinschaften akzeptiert wurde und mich dort sowohl frei bewegen als auch fotografieren durfte. Aber was urteile ich über Kiew…, meine Heimat Deutschland ist da ähnlich restriktiv.
Die alte Ost-West-Sache
Eine andere, frischere Wunde ist die des so genannten Euromaidans, wovon die vielen Kerzen, Fotos, Kreuze und auch Soldatenparaden auf dem Zentralplatz Kiews zeugen. Rund um die Säule des Unabhängigkeitsdenkmals zeigen Fotos das kämpfende Regiment Asow (auch Asowsches Bataillon). Für die einen kämpfen diese vom Westen mit Waffen und Ausrüstung versorgten Paramilitärs für die Freiheit der Ukraine. Für die anderen sind es schlichtweg Neonazis, da Runen und Reminiszenzen an die SS Hitlerdeutschlands offen zur Schau gestellt werden. Auch Antisemiten treiben dort ihr Unwesen; wer nennt sich schon freiwillig Misanthropic Division und spricht von arisch-ukrainischen Werten?
All das sind zum Glück nur Extreme und nicht der Normalfall. In der Ukraine schlagen aber zwei Herzen, ein proeuropäisches und ein prorussisches. Beide Strömungen werden aktuell von unterschiedlichsten Interessen instrumentalisiert und zusätzlich von übergeordneten, globalstrategischen Begierden missbraucht. Oder anders gefragt, was bitte hat der Ami in der Ukraine zu suchen?
Die Ukraine wurde von externen Interessen in einen Stellvertreter- und Bürgerkrieg gestürzt der so weit geht, dass man als Tourist auch schon mal auf offener Straße angefeindet wird wenn man russisch statt ukrainisch spricht. Mein ironisches „Entschuldige, dass ich als Ausländer froh bin, wenigstens eine slawische Sprache halbwegs zu sprechen um mich mit Euch verständigen zu können“ bewirkt wenigstens ein beschämtes Zurückrudern.
Ein paar Antis und Meckerer gibt es immer und in jedem Land, diese Breite der antirussischen Ressentiments im Alltagsgeschehen ist aber interessant. Meiner Meinung nach wurde das von außen ins Land gekippt. Mein Fotografenfreund Victor Boyko kann davon ein Lied singen, der als Russe mit ukrainischen Wurzeln und Fotoreporter Zeuge des Euromaidans wurde. Er stand auf Seiten der Protestler. Man half sich gegenseitig mit Essen, mit Nachtwache, mit heißem Tee und auch seelisch, durch Konversation. Doch irgendwann kippte jene konstruktive Stimmung des Aufbruchs und wurde schlichtweg antirussisch. Victor, der den Protestlern aktiv half (also nicht nur durch dummes Onlinegelaber und Facebook-Posts), wurde aufs Übelste beschimpft, auf dem Maidan genauso wie online. Aus Freunden wurden reale Feinde, eine Erfahrung die Victor als sehr schmerzlich und nicht nachvollziehbar beschreibt.
Auf jenem Maidan, dem großen Platz vor dem Hotel Ukraina, werde ich sowohl von Privatleuten als auch soldatisch gekleideten Männern relativ aggressiv angegangen um für den im Osten geführten Kampf zu spenden. Selbstverständlich habe ich für Kriege keinen Cent übrig, egal wer sich da den Schädel einschlägt. Mein Kumpel Valentin, der als junger Bengel im Donbass bereits unter Artilleriefeuer stand, kommentiert die Gesamtsituation lax aber treffend mit einem „Die Ukraine war schon immer das Schlachtfeld Anderer, egal ob Deutsche, Russen, Mongolen, Osmanen oder aktuell in der Fortführung von West gegen Ost; was für mich vielmehr ein Krieg zwischen Reich und Arm, zwischen den Kulturen des Egoismus und des Gemeinschaftssinns ist.“
In Valentins Reduzierung auf arm und reich, auf Egoismus gegen Solidarität steckt sehr viel mehr Realitätsnähe als in der Berichterstattung der Aktuellen Kamera des heute journals, wo Kleber und Konsorten die Neonazis von Asow mal wieder bewusst als Rebellen und die Guten darstellen. Reich gegen arm ist ein Konflikt, der in der Ukraine, genauso wie für Berlin, mit dem Fall des Ostblocks ausbrach. Und genau wie in Berlin ist der Mietspiegel eine exzellente Reflektion dieses Konflikts, wenn in Kiew für 70m² Wohnungen bereits satte und übliche 2.000 US$ pro Monat aufgerufen wird, obwohl das Durchschnittseinkommen bei monatlich nur 400€ liegt und die Wohnungen seit den 60er Jahren de facto immer noch die gleichen sind.
Derartige Preisexplosionen sind keine Einzelfälle und es gibt natürlich auch Menschen, die das, warum auch immer, bezahlen könne und wollen. Der gesellschaftliche Kontrast aber könnte nicht größer sein, und so liegen die Schicksale Berlins und der Ukraine erstaunlich nah beieinander, wenn es in der deutschen Hauptstadt mit den Mitteln der Luxussanierung gegen Alteingesessene geht. Zum Glück aber gab’s für die Ende der 1980er Jahre gesättigten westlichen Märkte den Mauerfall. Endlich konnte man wieder ungestraft auf Teufel komm raus Zaster machen, im Osten, in Kiew wie in Berlin.
Man luchste den Einheimischen die Immobilien ab, sanierte ihr Aussehen und erhöhte die Mieten dann so drastisch, dass es jüngst sogar Wahlkampfthema wurde, weil nur noch Zugezogene, ihres protzig gefüllten Portemonnaies wegen die besseren Menschen, all das bezahlen konnten. Viele, auch Medien und selbst die offizielle „Sei Berlin“-Kampagne etikettierten diesen Prozess als Wachstum oder aber Freiheit. Ihr dürft diese Einschätzung werten wie ihr wollt, für mich aber wurde das und derjenige, was eine Stadt groß und ausmachte, in Teilen aktiv zerstört. Berliner Identität wurde vorsätzlich vernichtet statt gestiftet. Derartiges Vorgehen rächt sich über kurz oder lang. Man braucht sich nur die gentrifizierungsbedingten Berliner Nebenwirkungen wie Krawalle, brennende Autos oder aber Wahlergebnisse anzuschauen.
Die Ukraine gehört immer noch zu den ärmsten Ländern Europas. Genau aus dieser Armut heraus entsteht Kriminalität, um in einem Land überleben zu können, wo die Preise in kürzester Zeit durch die Decke schossen und immer noch schießen. So sind z.B. die Diebstähle kontaminierten Metalls aus der Sperrzone von Tschernobyl, die mir Leonid berichtet, finanziell motiviert. Und auch der von Korruption durchtränkte Ausverkauf des ukrainischen Waffenarsenals durch Wiktor But fällt in diese Kategorie des vom finanziellen Überleben geprägten Verbrechens. Die größten Fische dieser Kriminalität werden zu einflussreichen Leuten, auch Oligarchen genannt.
Pure Petro-Präsidenten-Power
Einer dieser ukrainischen Oligarchen ist Petro Poroschenko, der Zuckerbaron und aktueller Präsident der Ukraine. Er besitzt ein Süßigkeitenimperium namens Roshen. In 2013 war es auf Platz 18 der Top-100-Liste der weltweiten Süßwarenindustrie gesetzt, in 2016 rangierte es auf Platz 22. Kein nennenswerter Absturz also, obwohl 40% des Umsatzes wegbrachen als der Hauptmarkt Russland 2013 einen Importstopp für Roshen verhängte. Guckt man sich an den offiziell touristischen Orten der Ukraine um, an Tourismus-Hotspots und den Flughäfen, dann sieht man nur noch Roshen und keinen Wettbewerber mehr in den Regalen. Hat er gut hingekriegt, der vom Westen als lupenrein demokratisch gefeierte Petro.
Genug der Politik. Dieser dreckige Sumpf, von allen Seiten mit Lügen befeuert, trübt den Blick auf die wesentlichen, wichtigen, zwischenmenschlichen Dinge. Ich treffe Nastja und Jewgeni, zwei im Kiewer Distrikt Podil lebende Youngster. Zusammen klettern wir auf zwei Brückenruinen um die Aussicht auf die Stadt zu genießen. Eine dieser Brücken ist die Podilsko-Woskresenskyi-Brücke, eine gewaltige Stahlbogenkonstruktion mit zwei Ebenen die eigentlich bereits in Betrieb sein sollte. Ich stimme in Nastjas und Jewgenis Spott über die Bauruine ein und berichte vom neuen Berliner Flughafen.
Ich wünsche der Ukraine von Herzen aus eigener Kraft zu echter Eigenständigkeit zu finden. Dazu gehört auch ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn. Das Aussperren von z.B. der russischen ESC-Teilnehmerin ist Kinderkram und kontraproduktiv. Von Freiheit geprägtes Leben heißt aber auch nicht den Starbucks, McDonalds und Apples dieser Welt auf den Leim zu gehen, denn diese Firmen sehen nur Gewinnmaximierung, lokale Steuervermeidung und alle kulturellen Eigenheiten vernichtenden Konsum. Eine Kernerkenntnis meiner, aktuell über 103 Länder umfassenden Reisetätigkeit.